Was alles hinter Rulaman steckt
BIBERACH Über eine halbe Million Leser hat den Steinzeithelden Rulaman durch die Welt der Höhlenmenschen auf der Schwäbischen Alb begleitet, seit der Bestseller vor 125 Jahren erschienen ist. Was hat diesen Roman so erfolgreich gemacht, dass er gar in fünf Sprachen übersetzt wurde?
Die Schwäbische Alb ist immer wieder gut für sensationelle archäologische Funde aus der Steinzeit. Schon 1861 und 1866 hatte der Prähistoriker Oscar Fraas in der Bärenhöhle im Lonetal Spuren altsteinzeitlicher Kulturen entdeckt, unter anderem bearbeitete Knochen und Zähne. Für Fraas waren sie der Beweis, „dass die Alten das Mammuttier wirklich gejagt, erlegt und zerlegt haben“.
Diese Funde beflügelten auch die Fantasie des promovierten Zoologen David Friedrich Weinland (1829 – 1915), der in seinem Roman „Rulaman“ die Abenteuer eines Jungen aus der Altsteinzeit erzählt. Ursprünglich war die Geschichte für seine vier Söhne gedacht, wie er im Vorwort zur ersten Auflage schreibt: „Die nachfolgenden Blätter sind entstanden aus zufälligen Erzählungen, wie sie ein Vater seiner heranwachsenden Jugend aus Beobachtung, Studium und Dichtung zusammensetzte.“ Dabei legte er großen Wert auf Wissenschaftlichkeit: „Leitender Grundsatz war, von den festen, beobachteten Tatsachen auszugehen, nichts naturwissenschaftlich Unmögliches zu bieten, und auch bei der Fiktion alles Unwahrscheinliche auszuschließen.“
Die Geschichte des Romans, das geistige Umfeld, in dem er entstand, seine Botschaften und seine Wirkung sind Thema einer Ausstellung, die derzeit im Biberacher Braith-Mali-Museum zu sehen ist. Dabei wird auch der damalige archäologische Forschungsstand mit dem heutigen verglichen.
Die Hauptschauplätze der Erzählung, vier Albhöhlen in der Umgebung Urachs, kannte Weinland zum Teil aus seiner eigenen Kindheit, die der Pfarrersohn in Grabenstetten verbrachte. Als Herausgeber der populärwissenschaftlichen Zeitschrift „Der Zoologische Garten“ und wissenschaftlicher Mitarbeiter der Frankfurter Zoologischen Gesellschaft war Weinland ein Experte der urgeschichtlichen Tierwelt. Kein Wunder, dass sich im „Rulaman“ zahlreiche Schilderungen von Kämpfen mit gefährlichen Höhlenlöwen und Bären finden.
Der „Erzfeind“ als Kelte
Bei den Beschreibungen des altsteinzeitlichen Stammeslebens stützte sich Weinland auf Beobachtungen, die er bei Reisen zu nordamerikanischen Indianern gemacht hatte, aber auch auf Berichte über die Lebensgewohnheiten der samischen Bevölkerung Nordnorwegens. Doch gerade bei diesen ethnologischen Beschreibungen erlag Weinland dem zeittypischen Dünkel gegenüber so genannten Naturvölkern, die er als „Menschen auf der niedrigsten Stufe“ ansah.
Spürbarer wird der Zeitgeist des wilhelminischen Kaiserreiches im Konflikt zwischen Rulamans Leuten, den primitiven, aber moralisch integren „Aimats“ mit den verweichlichten, aber technisch überlegenen „Kalimats“. Hinter denen erkennt man unschwer die Kelten, die Vorfahren des damaligen französischen „Erbfeindes“. Brutal ermorden Kalimats Rulamans Eltern und Freunde – ein historischer Anachronismus, der eigentlich Weinland hätte bewusst sein müssen, denn historisch betrachtet konnten die Aimats, altsteinzeitliche Sammler und Jäger, nie den Kalimats, eisenzeitlichen Ackerbauern, begegnen. Zwischen den beiden Kulturen liegen Tausende von Jahren.
Sogar als kriegerisches Vorbild für die Jugend des Kaiserreiches benützte Weinland Rulaman, wenn er an die Leser appellierte: „Aber seid unbesorgt, ihr, denen das Herz wärmer und wilder schlug, als ihr den tollkühnen jungen Helden Rulaman Löwen saht. Auch euch hat das Schicksal noch Augenblicke aufbewahrt, wo es gilt ohne Zaudern alles einzusetzen und alles zu wagen.“
Aus heutiger Sicht ist „Rulaman“ also wissenschaftlich überholt und ideologisch fragwürdig. Was erklärt aber den großen Erfolg des Romans, der bis heute lieferbar ist und in mehr als einer halben Million Exemplaren verkauft wurde?
Zunächst ist er, trotz der oft langatmigen Schilderungen von Tier- und Pflanzenwelt, spannend. Der Schriftsteller Gunter Herburger erinnerte sich 1999 an seine Kindheit: „Ich las nachts im Bett, das in einer eiskalten Kammer stand. Elektrisches Licht durfte ich nicht benützen, aber ich besaß eine Taschenlampe mit kostbarer Batterie. War sie leer, begannen Sehnsucht und Jammer. Tagsüber zu lesen, kam mir nicht in den Sinn. Es wäre zu profan gewesen.“
Zum Erfolg trugen aber auch die Illustrationen Heinrich Leutemanns (1824-1905) bei, ein bekannter Jugendbuchillustrator jener Zeit, der auch „Lederstrumpf“ und „Gullivers Reisen“ bebilderte. Seine originalen Tuschzeichnungen, die den Holzschnitten im Buch zu Grunde lagen, zeigt die Biberacher Ausstellung zum ersten Mal.
Schwäbisches Nationalepos
Vor allem aber entwickelte sich „Rulaman“ deshalb zum heimlichen schwäbischen Nationalepos, weil es einige der als „urschwäbisch“ angesehenen Tugenden wie Fleiß, Sparsamkeit, Heimatverbundenheit rühmt. Bis heute finden sich Auszüge in Lesebüchern, und der Roman dient als Vorlage für Inszenierungen verschiedener Bühnen, etwa am Naturtheater Hayingen oder am Staatstheater Stuttgart.
Die Biberacher Ausstellung zeigt nicht nur in lebensgroßen Figurinen die Hauptpersonen aus Weinlands Roman, sondern auch archäologische Funde wie Tiergestalten aus Mammutelfenbein und steinzeitliche Werkzeuge.
INFO
Die Sonderausstellung Rulaman, der Steinzeitheld wird bis 22. Februar im Biberacher Braith-Mali-Museum gezeigt. Geöffnet dienstags bis freitags von 10 bis 13, 14 bis 17 Uhr, donnerstags bis 20 Uhr, samstags und sonntags 11-18 Uhr.http://www.museum.biberach-riss.de
Autor: Peter Bräunlein; SÜDWEST PRESSE 27. 12. 2003